Hohage: Tief verwurzelt glauben

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Artikelnummer: 224185

ISBN: 9783417241853

Herausgeber: SCM-R.Brockhaus

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Hohage: Tief verwurzelt glauben

Wie entsteht reifer Glaube? Nur dadurch, dass man die Schalen eines vermeintlichen Kinderglaubens abwirft? Sich von Vorstellungen, die heute nicht mehr plausibel scheinen, verabschiedet? Indem man nach einem Gottesbild fragt, das zu keinen biografischen Verletzungen führt und indem man neue Erkenntnisse umarmt, ohne die eigenen Einsichten absolut zu setzen?

Gerrit Hohage fragt tiefer. Er legt die denkerischen Voraussetzungen frei, die zu vielen aktuellen Neudeutungen des Glaubens führen, und betont, wie elementar auch geschichtliche Tatsachen für den Glauben sind. Die stellvertretende Wirkung des Kreuzestods Jesu muss keineswegs aufgegeben werden, wenn man intellektuell redlich bleiben will.

Hohages Buch ist ein wichtiger und klug durchgeführter Diskussionsbeitrag zu einer entscheidenden aktuellen Debatte. (Verlagstext)

Leseprobe als PDF

Autor:	Gerrit Hohage
ISBN:	9783417241853
Untertitel:	Wie man heute christlich denken kann
Erscheinungsdatum:	22.03.2024
Einband:	Hardcover
Seiten:	352

SCM-R.Brockhaus

SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41
71088 Holzgerlingen
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2 Bewertungen

8. August 2024 11:03

Marcel Haldenwang

Einleitung Der Autor ist promovierter evangelischer Pfarrer und bekannt durch seine Blogs „Evangelicals for Future“ und „Tiefer glauben“. Während der Pandemie, als konservative Christen Coronaleugnern, Impfskeptikern und Verschwörungstheoretikern auf den Leim gingen und sich anfällig zeigen für „alternative Fakten“, schrieb Hohage einen augenöffnenden Artikel mit dem Titel „Die Rückseite der Postmoderne“ (vgl. S. 20-24). Sein Befund war, dass die konservative Christenheit unmerklich von der Rückseite der Postmoderne überrollt worden war: Man hatte das postmoderne Mindset von links befürchtet, wurde aber von rechts überwältigt, hatte unmerklich ebenfalls einen angezählten Wahrheitsbegriff ausgebildet. Schon damals kündigte H. an, seine Gedanken zu einem Buch zu entfalten, und seither wartete ich gespannt auf dessen Erscheinen, zumal mich seit Corona besonders die Frage umtreibt, wie man angesichts der Tatsache, dass auch Christen inzwischen Bewohner unterschiedlichster Wirklichkeiten sind, am Sonntag noch gemeinsam das Lamm preisen kann. Inhalt H. gliedert sein Buch in drei große Kapitel. Im ersten Teil des Buches entfaltet er das postmoderne Mindset und seine geistesgeschichtliche Genese und bestimmt sorgfältig das Verhältnis von Glauben und Denken. Im zweiten Teil entfaltet H. das Thema „Anfechtung“ anhand einer Typologie und anhand biblischer Personen, die angefochten wurden. Im dritten Teil des Buches greift H. schließlich konkrete Inhaltsfelder auf, auf denen Christen der heutigen Zeit aufgrund des Zeitgeistes angefochten sind. Teil I Kenntnisreich führt H. aus, wie sich der klassische Wahrheitsbegriff aufgelöst hat. Für H. ist ein anti-postmodernes Christentum schlechthin unmöglich geworden kann man Jesus nur noch als „Licht des Multiversums“ verkündigen. Eindrücklich schildert er seine eigene Bekehrung und vergleicht seine Erweckung mit der von Prominenten wie Hartl, Böcking, Rorth und Ceylan. Nachdrücklich hebt er darauf ab, dass zu allen Zeiten Gott es ist, der sich dem Menschen offenbart. Er entfaltet gründlich den biblischen Wahrheitsbegriff (Wahrheit als Treue und Beständigkeit, aber auch Richtigkeit). Er erinnert an die Unterscheidung von Glaubenslehre, -vertrauen und -praxis; H. will die Glaubenslehre mit der Erfahrung verknüpft wissen und spricht sich in diesem Sinn für „Mystik“ aus. Bei seiner konzisen Ideengeschichte geht es um R. Descartes, D. Hume, I. Kant, die Romantik und die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhundert. Wir lernen A. Schlatter, J. G. Hamann, L. Wittgensteins und J. Derrida kennen und erfahren, was Hitler und Putin mit F. Nietzsche zu tun haben könnten. In Bezug auf die Wissenschaften, die die „ausgedehnte“ Welt erforschen, hält H. die Mittel der Vernunft und den methodischen Zweifel für legitim. Der Glaube entzieht sich nach H. aber der Methode, v. a. weil die Vernunft nach 1. Kor 1 von Gott verworfen wurde, was das Ende jeder wissenschaftlichen Theologie bedeute. Teil II Im zweiten Teil seines Buches entfaltet H. das Thema „Anfechtung“. Er versteht sein Buch als „seelsorgerliche Apologetik“ (S. 181 f.) für die angefochtene Gemeinde. Präzise bestimmt er die Bedeutung des Wortes „Versuchung“ und unterscheidet den Zweifel, der aus der Nähe zu Gott von dem, der aus dem Abstand zu ihm Gott erwächst. Anhand angefochtener biblischer Personen (Kapitel 4: Jesus, die Jünger, v. a. Petrus; Kapitel 5: Abraham, Jona, Jerobeam, Elia, Hiob, Emmausjünger; Kapitel 6: Maria Magdalena) erstellt H. eine Typologie der Anfechtung. Er unterscheidet 36 Anfechtungstypen danach, durch wen die Anfechtung ausgelöst wird, auf welchen Teil unseres Menschseins und auf welche Beziehungsebene sie abzielt. Vor allem aber unterscheidet er zwei Reaktionsweisen: die funktionale, die dazu führt, dass man tiefer verwurzelt wird im Glauben, und die dysfunktionale, die in die Abwendung vom christlichen Glauben mündet. Damals bei Jerobeam genauso wie heute bei den aktuellen „Entkehrungen“ folge der Abfall oftmals dem Dreischritt aus Distanzierung, Subtraktion und Substitution. Den biblischen Beispielen fügt er die Besprechung dreier Bücher zum Thema „Anfechtung“ an. Teil III Im dritten Teil des Buches greift H. schließlich Glaubensinhalte auf, hinsichtlich derer Christen aufgrund des Zeitgeistes derzeit besonders stark angefochten sind. Als erstes kritisiert H. die in der Exegese vorherrschende historisch-kritische Methode. Zu diesem Zweck spürt er der Entstehung des Begriffs des Historischen nach und kritisiert, dass er ein Eingreifen Gottes von vornherein axiomatisch ausschließe. H. will den Begriff des Historischen durch „einen nach oben offenen Geschichtsbegriff“ ersetzen (vgl. S. 216-219). Der Leser wird auch in diesem Kapitel mit vielen Namen konfrontier: mit L. Ranke, E. Troeltsch, D. F. Strauß und R. Bultmann. H. erklärt, wie im Gefolge eines H. S. Reimarus immer mehr „historische Jesusse“ entstanden, wie man seither immer wieder aufs Neue zwischen „Kern“ und „Schale“ zu unterscheiden versucht habe und wie die (unterstellte) Wirkungsgeschichte immer breiteren Raum eingenommen habe. Reimarus‘ und A. v. Harnacks Abkehr vom orthodoxen Glauben deutet H. als Anfechtungen. Er stellt ihrem dysfunktionalen Umgang mit der Anfechtung den funktionalen der Maria Magdalena gegenüber, die am Ostermorgen „nicht mit dem sezierenden Skalpell, sondern mit wohlriechenden Ölen und Tüchern“ zum Grab (S. 248). H. setzt sich kritisch mit dem Begriff der „zweiten Naivität“ auseinander (P. Ricoeur, P. Wust) und lässt ihn nur gelten, wo er wie bei Maria Magdalena eine Neubegegnung mit Jesus bedeutet. Dem eigentlichen Problem der historisch-kritischen Herangehensweise kommt H. erst am Schluss seines Kapitels auf die Spur: Sie „hintergeht“ die Ebene des Jetzt-Textes und betreibt „Text-Archäologie“, löst den Text in Schichten auf (S. 230; vgl. auch S. 307). H. wendet sich als zweites gegen die in Mode gekommene Rede vom „Gottesbild“. Die Rede vom Gottesbild ersetze den real existierenden Gott, aber in der Todesstunde helfe nur Gott, während mein Gottesbild mit mir sterbe. Des Weiteren weist H. die durch die historisch-kritische Methode übliche gewordene Behauptung zurück, Jesus sei Mensch gewesen, alle anderen Titel seien Wirkungsgeschichte. Wer die Gottessohnschaft für eine spätere Zuschreibung halte, sei der alten Häresie des Adoptianismus verfallen. Was seine Bibliologie betrifft, nimmt H. Anleihen bei der in der Christologie (und beim Abendmahl) bewährten Formel „Gottes Wort in, mit und unter ihren menschlichen Worten, unvermischt und ungetrennt“ (S. 242). Klar erteilt er bereits auf S. 114 allen eine Absage, die zwischen Bibel und Jesus Christus einen Gegensatz konstruieren wollen. Zu einem apriorischen Bekenntnis zur Heiligen Schrift kann er sich gleichwohl nicht durchringen: Der Weg, den wir nähmen, damit Gott uns ansprechen könne, sei zweitrangig, wichtig sei, dass es uns faktisch erreicht: „Der auf Gottes Reden hörende Gebrauch der Schrift ist unser ‚erster Ausgangspunkt‘, nicht die richtige Theorie über die Schrift … Nicht was wir über die Schrift denken, ist wichtig, sondern ob wir sie so lesen, dass wir Gottes Stimme in ihr hören. … Es handelt sich … also ausdrücklich nicht um eine Voraussetzung, um die Bibel zu verstehen, sondern um ein Nach-Denken … Es ist … kein Urteil a prioroi, sondern ein Urteil a posteriori. Das Schriftprinzip ist der Schriftgebrauch … “ (S. 250 f.; vgl. auch S. 225). Schließlich widmet sich H. biblischen Passagen, die Anlass für Anfechtung sein können: der Sintflut, dem Auszug aus Ägypten und der Tötung der Erstgeborenen, den giftigen Schlangen und dem Tod Usas, der die Bundeslade berührte, schließlich der Hölle und ewigen Verdammnis bei Jesus und dem Zorn Gottes i. A. H. dekonstruiert alle Versuche der Antike, Gnosis, Aufklärung und Bibelkritik, den zornigen Gott loszuwerden. Für H. ist der Zorn die Kehrseite der Liebe Gottes und Ausdruck seiner Gerechtigkeit. Würde Gott Ungerechtigkeit nicht ahnden, wäre er nicht gerecht, seine Güte nicht verlässlich. Paradoxerweise strafe die heutige Gesellschaft, für die ein gebietender und zorniger Gott undenkbar ist, selbst Abweichler von den selbst gesetzten Werten rigoros ab. Abschließend wendet sich H. ausführlich der Umdeutung der traditionellen Kreuzestheologie zu. Auch das Infragestellen des stellvertretenden Opfers Jesu ist für H. eindeutig eine Anfechtung und alternative Deutungen sind s. E. Ausdruck eines dysfunktionalen Umgangs mit der Anfechtung in Form des beschriebenen Dreischritts. Er rehabilitiert A. v. Canterburys Satisfaktionslehre und führt aus, wo sie mit Luthers Kreuzestheologie korrespondiert. Treffend führt er aus, dass auch das AT den Ausgleichsgedanken kennt und auch Gott Empfänger, d. h. Objekt, des Opfers und Sühnegeschehens ist. Eine Umdeutung des Kreuzesgeschehens, wonach Jesus sich am Kreuz lediglich mit der Not der Welt identifizierte, weist er vehement zurück. Hier tue sich ein Abgrund zu Luther und der Reformation auf, und mit den „Wortwolken“ der ausgehöhlten neuen Kreuzestheologie könne er nichts anfangen. Für ihn schafft die entkernte Kreuzestheologie nur einen weiteren „historischen Jesus“, der das Weltbild ihrer Erschaffer und ihren Kampf gegen die Bösen widerspiegelt, die Menschen aber mit der Last der Sünde allein lässt (vgl. S. 275-277). Mit deutlichen Worten erteilt H. in diesem Zusammenhang der Allversöhnung ebenso wie dem Pazifismus eine Absage. Den Abschluss des dritten Teils bildet eine 28seitige Ekklesiologie. H. erklärt, wie sich sichtbare und unsichtbare Kirche zueinander verhalten und welche Rolle der Kirche, der Predigt und den Bekenntnisschriften beim Bewahren der Apostolizität zukommt. H. akzentuiert deutlich die Verantwortlichkeit der Kirche, falsche Lehren und Lehrer nicht einfach zu tolerieren und die Grundlage der Apostel und Propheten und Jesus Christus als Eckstein nicht zu verlieren (vgl. S. 296). Es gebe ein „,Jenseits‘ des Weges“ (S. 304). Eindringlich appelliert er an die Leser, in Jesus zu wurzeln, den Durst nach Gott durch Bibel und Gebet zu stillen, die Gemeinschaft anderer Christen zu suchen, der Anfechtung richtig zu begegnen, die traditionelle Lehre nicht vorschnell zu verlassen und sich neue Räume nur innerhalb des Hauses zu suchen, den Kern nicht von der Schale trennen zu wollen. die „Jetzt-Gestalt der biblischen Texte“ (S. 307) zum Ausgangspunkt zu nehmen, den methodischen Atheismus zu überwinden sowie um die richtige Nähe und Distanz zur Welt zu ringen und Sorge um die Apostolizität der Kirche zu tragen. Kritische Würdigung H. hat m. E. wie kein zweiter erkannt, wie sehr der Umstand des „weggewischten Horizontes“ (S. 104) unsere Zeit prägt. Zurecht deutet er die Reaktion auf Corona, die Popularität von Verschwörungstheorien, den Trumpismus, Gender Mainstreaming, die Gelbwesten und den Brexit als Symptome des verlorenen Wahrheitsbegriffs und Postfaktischen. Angesichts seiner klaren Analyse war ich verwundert über seinen Kotau gegenüber „allen biologischen und sozialen Geschlechtern“ (S. 14). Gespannt war ich, wie einleitend erwähnt, welche Vorschläge H. für den Umgang der Bewohner unterschiedlicher Wirklichkeiten innerhalb von Gemeinde bereithält. Hier enttäuscht mich der Autor, wenn er es für zwecklos hält, andere aus ihrer Blase herausholen zu wollen, und stattdessen Jesus als „das Licht des Multiversums“ bezeichnet. An sich ist richtig, dass es v. a. darum geht, als „Tuchträger“ Menschen zu Jesus zu bringen. Schon gar nicht sollte man das Evangelium unter einen Gesinnungsvorbehalt stellen, d. h. niemand muss zunächst eine aufgeklärte Haltung zum Thema „Impfen“ entwickeln oder Trump abschwören, um Christ werden zu könne. Ich befürchte aber, dass wenn wir in außerbiblischen Fragen die Factfullness dieser Welt aufgeben und den „epistemischen Tribalismus“ akzeptieren, früher oder später auch die biblischen Wahrheiten geschleift werden. Auch sich in der Mitte treffen wollen führt meistens in die Irre. Es war eine große Sünde, die bekannt werden müsste, dass sich gerade die Frommen in der Pandemie gegen den Lebensschutz aussprachen. Das Evangelium muss alle Bereiche unseres Lebens durchleuchten und darf auch aufdecken, wo wir unmerklich Ideologien verfallen sind. Verweise auf 1. Kor 9,20 ff. („den Juden ein Jude“ usw.) oder Röm 14/1. Kor 8 (das Gewissen des anderen respektieren) sind in diesem Zusammenhang nicht am Platze. Meines Erachtens ist es eine Frage der Nächstenliebe, den anderen nicht seinem Irrtum zu überlassen. Am erbaulichsten fand ich H.s autobiografischen Einlassungen. Als seelsorgerlich sehr nützlich empfand ich die Ausführungen zu den Angefochtenen der Bibel. Genesis 22 ist für mich selbst immer schon Ausgangspunkt großer Anfechtungen gewesen und H.s Ausführungen überzeugen mich mehr als Kierkegaard, zumal H. Hebräer 11 und Abrahams Auferstehungshoffnung ernst nimmt. Angesichts des in jüngster Zeit gerade bei SCM neuentstandenen „Entkehrungs-Genres“ tut eine biblische Einordnung der Anfechtung und des Abfalls not. H. gebraucht ein sehr treffendes Bild, wenn er den christlichen Glauben mit einem Haus vergleicht, das man erweitern, dessen tragende Balken man aber nicht antasten darf. H. will sich die postmoderne Skepsis gegenüber Begriffen zunutze machen und kritisiert ausführlich den Begriff des Historischen, weil er für das Wirken Gottes und Wunder keinen Raum lässt. H. etabliert stattdessen einen Geschichtsbegriff, der „nach oben hin offen“ ist, was m. E. legitim ist. Aber dass er Ranke attackiert, führt zu weit. Ich persönlich bin jedenfalls froh, dass wenigstens weite Teile der Geschichtswissenschaft noch vom postmodernen Zeitgeist unberührt sind und an Rankes Diktum, wonach es Aufgabe des Historikers ist, „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen ist“, festhalten. Der methodische Atheismus hat in der Natur- und Geschichtswissenschaft durchaus seine Berechtigung, er muss sich aber strikt dagegen verwahren, für einen ontologischen gehalten zu werden. Vor allem aber gilt, dass das, was H. in Teil I in Bezug auf den Glauben treffend ausführt, auch für alle biblischen Texte gilt: Sie entziehen sich dem Zugriff der Vernunft und können mit den Mitteln der für außerbiblische Quellen sehr wohl geeigneten historisch-kritischen Methode nicht untersucht werden. Verdienstvoll ist H.s Absage an alle Versuche, hinter die die Jetzt-Gestalt der biblischen Texte blicken zu wollen – diese Kritik sollten sich vormals bibeltreue Ausbildungsstätten wie die FTH Gießen zu Herzen nehmen. Seine Absage an alle Versuche, zwischen Kern und Schale unterscheiden und einen „historischen Jesus“ herausschälen zu wollen, gehört zu den stärksten Passagen des Buches ebenso wie die Abwehr aller Versuche, die Gottessohnschaft Jesu als eine nachösterliche Idee erscheinen zu lassen. Das Problem mit der historisch-kritischen Methode beginnt, anders als uns A. Baum und andere uns glauben machen wollen, nicht erst bei der Wunderkritik, sondern da, wo man hinter den vorgefundenen, inspirierten Text blicken will. Wer die Gottessohnschaft Jesu für einen Titel aus der Wirkungsgeschichte hält, ist häretisch, aber auch sich an der Debatte, welchen Anteil Johannes an der Vermehrung der Sohn-Gottes-Aussagen hat, zu beteiligen, ist schandbar! H. bezeichnet die Bibel durchaus als „primum principium“ (vgl. S. 117), auch wenn D. Facius bereits treffend angemerkt hat, dass die nicht nur gilt, „wenn wir sie gebrauchen“ (S. 118). Er plädiert für die in der Christologie bewährte o. g. Formel und will die Treue zur Schrift v. a. daran messen, ob diese uns in unserer Lebenspraxis herausfordern darf. Angesichts dieser treffenden Aussagen und auch des Befundes aus Teil I, wonach die Vernunft nichts taugt, wenn es um Dinge jenseits der ausgedehnten Welt geht, ist mir unverständlich, warum H. sich nicht zu einem apriorischen Bekenntnis zur Heiligen Schrift durchringt. Eine Theologie, die wie H. die Grenzen der Zuständigkeit der Vernunft so klar benennt, müsste m. E. keine Scheu haben, sich als „Theologie unter dem Wort“ zu verstehen – auf S. 299 spricht er positiv von der „Bindung unter (!) die Heilige Schrift“ –, die Selbstaussagen der Heiligen Schrift über ihre Inspiration ernst zu nehmen und sich deutlich zur Chicago-Erklärung zu bekennen. Gefeiert habe ich das Buch für seine klare Absage an alle Versuche, den stellvertretenden Sühnungstod Jesu umzudeuten zu einer bloßen Existenzstellvertretung – Jesus kommt in unser Elend, Gott führt vor, wozu der korrumpierte Mensch fähig ist. Angesichts des Umstandes, dass sogar unter Evangelikalen und bis in Brüdergemeinden hinein beliebte Universitätstheologen wie H.-J. Eckstein akademisch verbrämt auf genau diese Weise die biblische Sühnelehre aushöhlen, ist H.s Weckruf überfällig! Auch wenn er die Aussage Childers, die die Erkenntnis des stellvertretenden Sühnetodes als „heilsnotwendig“ bezeichnet, leider abschwächt (vgl. S. 264) und lediglich von „Goldstandard“ (S. 280) spricht, arbeitet H. präzise heraus, wie sehr A. v. Canterbury heute als Strohmann missbraucht wird und wo seine Kreuzestheologie sich durchaus mit der Luthers deckt. Pointiert stellt H. fest, dass nicht ein Gott zynisch ist, der seinen Sohn opfert und damit die Grundlage zu echter Versöhnung schafft, sondern ein Gott, der Jesus zu „Demonstrationszwecken“ leiden lässt. Sein Urteilsvermögen versagt m. E., wenn es um die Einschätzung Barths geht. H. meint, ein Zusammenschluss mit der Gemeinschaftsbewegung sei angesichts von Barths Offenbarungstheologie naheliegend gewesen, aber an Barths Ablehnung der Glaubenserfahrung gescheitert (vgl. Endnote 55). Das übersieht, dass Barth der häretischen Ansicht war, dass Christus die sündige menschliche Natur angenommen habe. Jesus lebte aber nicht nur sündlos, wie H. schreibt (vgl. S. 267), er wusste auch von keiner Sünde, wie H. ebenfalls schreibt (vgl. S. 262). Abzuspüren ist dem Autor, dass er darum ringt, wie die Apostolizität des christlichen Glaubens gewahrt werden kann. Zwar sitzt er im Hinblick auf den Weizen und das Unkraut der verbreiteten Verwechslung von Kirche und Reich Gottes auf. Dennoch betont er, dass man sich nicht mit dem Verweis auf den Unterschied zwischen sichtbarer und unsichtbarerer Kirche vor der Verantwortung drücken darf, Häresie auch als solche zu benennen. Leider übersieht er aber, welch großen Anteil an der Auffassung, Kirche sei Corpus Permixtum und man könne gegen die Vermischung von Glaubenden und Nicht-Glaubenden nichts unternehmen, das auch in diesem Buch durchgängig vertretene lutherische Taufverständnis hat. Während H. an einer Stelle unmissverständlich klarstellt, dass nur Wort und Glauben rettende Kraft besitzen (vgl. S. 269), wird er nicht müde, die Taufe an vielen anderen Stellen des Buches als Sakrament zu bezeichnen, und kolportiert damit die Verwirrung, die Luther bei aller Klarheit in Fragen der Rechtfertigung aus Glauben in Bezug auf die drei Sakramente stiftete, von denen er nicht lassen konnte. Wie schnell darauf auch bei den Protestanten die Rückkehr zur Taufwiedergeburtslehre folgte, durch die sich bis heute Abermillionen in trügerischer Sicherheit wiegen, hat die Kirchengeschichte inzwischen gezeigt. Fazit: Von H.s geistesgeschichtlicher Analyse der postmodernen Gegenwart habe ich sehr profitiert. Mutig bietet er überdies den liberalen Vertretern seiner Zunft die Stirn – womit er als beamteter Pfarrer mit Sicherheit ein hohes Risiko eingeht. Problematisch finde ich, dass er Menschen ihrer Bubble überlässt, sich die postmoderne Auflösung von Begriffen zunutze machen will und sich nicht zu einem apriorischen Bekenntnis zur Lehre von der Heiligen Schrift durchringen kann und sie für nachgeordnet hält.

7. August 2024 22:00

Marcel Haldenwang

Einleitung Der Autor ist promovierter evangelischer Pfarrer und bekannt durch seine Blogs „Evangelicals for Future“ und „Tiefer glauben“. Während der Pandemie, als konservative Christen Coronaleugnern, Impfskeptikern und Verschwörungstheoretikern auf den Leim gingen und sich anfällig zeigen für „alternative Fakten“, schrieb Hohage einen augenöffnenden Artikel mit dem Titel „Die Rückseite der Postmoderne“ (vgl. S. 20-24). Sein Befund war, dass die konservative Christenheit unmerklich von der Rückseite der Postmoderne überrollt worden war: Man hatte das postmoderne Mindset von links befürchtet, wurde aber von rechts überwältigt, hatte unmerklich ebenfalls einen angezählten Wahrheitsbegriff ausgebildet. Schon damals kündigte H. an, seine Gedanken zu einem Buch zu entfalten, und seither wartete ich gespannt auf dessen Erscheinen, zumal mich seit Corona besonders die Frage umtreibt, wie man angesichts der Tatsache, dass auch Christen inzwischen Bewohner unterschiedlichster Wirklichkeiten sind, am Sonntag noch gemeinsam das Lamm preisen kann. Inhalt H. gliedert sein Buch in drei große Kapitel. Im ersten Teil des Buches entfaltet er das postmoderne Mindset und seine geistesgeschichtliche Genese und bestimmt sorgfältig das Verhältnis von Glauben und Denken. Im zweiten Teil entfaltet H. das Thema „Anfechtung“ anhand einer Typologie und anhand biblischer Personen, die angefochten wurden. Im dritten Teil des Buches greift H. schließlich konkrete Inhaltsfelder auf, auf denen Christen der heutigen Zeit aufgrund des Zeitgeistes angefochten sind. Teil I Kenntnisreich führt H. aus, wie sich der klassische Wahrheitsbegriff aufgelöst hat. Für H. ist ein anti-postmodernes Christentum schlechthin unmöglich geworden kann man Jesus nur noch als „Licht des Multiversums“ verkündigen. Eindrücklich schildert er seine eigene Bekehrung und vergleicht seine Erweckung mit der von Prominenten wie Hartl, Böcking, Rorth und Ceylan. Nachdrücklich hebt er darauf ab, dass zu allen Zeiten Gott es ist, der sich dem Menschen offenbart. Er entfaltet gründlich den biblischen Wahrheitsbegriff (Wahrheit als Treue und Beständigkeit, aber auch Richtigkeit). Er erinnert an die Unterscheidung von Glaubenslehre, -vertrauen und -praxis; H. will die Glaubenslehre mit der Erfahrung verknüpft wissen und spricht sich in diesem Sinn für „Mystik“ aus. Bei seiner konzisen Ideengeschichte geht es um R. Descartes, D. Hume, I. Kant, die Romantik und die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhundert. Wir lernen A. Schlatter, J. G. Hamann, L. Wittgensteins und J. Derrida kennen und erfahren, was Hitler und Putin mit F. Nietzsche zu tun haben könnten. In Bezug auf die Wissenschaften, die die „ausgedehnte“ Welt erforschen, hält H. die Mittel der Vernunft und den methodischen Zweifel für legitim. Der Glaube entzieht sich nach H. aber der Methode, v. a. weil die Vernunft nach 1. Kor 1 von Gott verworfen wurde, was das Ende jeder wissenschaftlichen Theologie bedeute. Teil II Im zweiten Teil seines Buches entfaltet H. das Thema „Anfechtung“. Er versteht sein Buch als „seelsorgerliche Apologetik“ (S. 181 f.) für die angefochtene Gemeinde. Präzise bestimmt er die Bedeutung des Wortes „Versuchung“ und unterscheidet den Zweifel, der aus der Nähe zu Gott von dem, der aus dem Abstand zu ihm Gott erwächst. Anhand angefochtener biblischer Personen (Kapitel 4: Jesus, die Jünger, v. a. Petrus; Kapitel 5: Abraham, Jona, Jerobeam, Elia, Hiob, Emmausjünger; Kapitel 6: Maria Magdalena) erstellt H. eine Typologie der Anfechtung. Er unterscheidet 36 Anfechtungstypen danach, durch wen die Anfechtung ausgelöst wird, auf welchen Teil unseres Menschseins und auf welche Beziehungsebene sie abzielt. Vor allem aber unterscheidet er zwei Reaktionsweisen: die funktionale, die dazu führt, dass man tiefer verwurzelt wird im Glauben, und die dysfunktionale, die in die Abwendung vom christlichen Glauben mündet. Damals bei Jerobeam genauso wie heute bei den aktuellen „Entkehrungen“ folge der Abfall oftmals dem Dreischritt aus Distanzierung, Subtraktion und Substitution. Den biblischen Beispielen fügt er die Besprechung dreier Bücher zum Thema „Anfechtung“ an. Teil III Im dritten Teil des Buches greift H. schließlich Glaubensinhalte auf, hinsichtlich derer Christen aufgrund des Zeitgeistes derzeit besonders stark angefochten sind. Als erstes kritisiert H. die in der Exegese vorherrschende historisch-kritische Methode. Zu diesem Zweck spürt er der Entstehung des Begriffs des Historischen nach und kritisiert, dass er ein Eingreifen Gottes von vornherein axiomatisch ausschließe. H. will den Begriff des Historischen durch „einen nach oben offenen Geschichtsbegriff“ ersetzen (vgl. S. 216-219). Der Leser wird auch in diesem Kapitel mit vielen Namen konfrontier: mit L. Ranke, E. Troeltsch, D. F. Strauß und R. Bultmann. H. erklärt, wie im Gefolge eines H. S. Reimarus immer mehr „historische Jesusse“ entstanden, wie man seither immer wieder aufs Neue zwischen „Kern“ und „Schale“ zu unterscheiden versucht habe und wie die (unterstellte) Wirkungsgeschichte immer breiteren Raum eingenommen habe. Reimarus‘ und A. v. Harnacks Abkehr vom orthodoxen Glauben deutet H. als Anfechtungen. Er stellt ihrem dysfunktionalen Umgang mit der Anfechtung den funktionalen der Maria Magdalena gegenüber, die am Ostermorgen „nicht mit dem sezierenden Skalpell, sondern mit wohlriechenden Ölen und Tüchern“ zum Grab (S. 248). H. setzt sich kritisch mit dem Begriff der „zweiten Naivität“ auseinander (P. Ricoeur, P. Wust) und lässt ihn nur gelten, wo er wie bei Maria Magdalena eine Neubegegnung mit Jesus bedeutet. Dem eigentlichen Problem der historisch-kritischen Herangehensweise kommt H. erst am Schluss seines Kapitels auf die Spur: Sie „hintergeht“ die Ebene des Jetzt-Textes und betreibt „Text-Archäologie“, löst den Text in Schichten auf (S. 230; vgl. auch S. 307). H. wendet sich als zweites gegen die in Mode gekommene Rede vom „Gottesbild“. Die Rede vom Gottesbild ersetze den real existierenden Gott, aber in der Todesstunde helfe nur Gott, während mein Gottesbild mit mir sterbe. Des Weiteren weist H. die durch die historisch-kritische Methode übliche gewordene Behauptung zurück, Jesus sei Mensch gewesen, alle anderen Titel seien Wirkungsgeschichte. Wer die Gottessohnschaft für eine spätere Zuschreibung halte, sei der alten Häresie des Adoptianismus verfallen. Was seine Bibliologie betrifft, nimmt H. Anleihen bei der in der Christologie (und beim Abendmahl) bewährten Formel „Gottes Wort in, mit und unter ihren menschlichen Worten, unvermischt und ungetrennt“ (S. 242). Klar erteilt er bereits auf S. 114 allen eine Absage, die zwischen Bibel und Jesus Christus einen Gegensatz konstruieren wollen. Zu einem apriorischen Bekenntnis zur Heiligen Schrift kann er sich gleichwohl nicht durchringen: Der Weg, den wir nähmen, damit Gott uns ansprechen könne, sei zweitrangig, wichtig sei, dass es uns faktisch erreicht: „Der auf Gottes Reden hörende Gebrauch der Schrift ist unser ‚erster Ausgangspunkt‘, nicht die richtige Theorie über die Schrift … Nicht was wir über die Schrift denken, ist wichtig, sondern ob wir sie so lesen, dass wir Gottes Stimme in ihr hören. … Es handelt sich … also ausdrücklich nicht um eine Voraussetzung, um die Bibel zu verstehen, sondern um ein Nach-Denken … Es ist … kein Urteil a prioroi, sondern ein Urteil a posteriori. Das Schriftprinzip ist der Schriftgebrauch … “ (S. 250 f.; vgl. auch S. 225). Schließlich widmet sich H. biblischen Passagen, die Anlass für Anfechtung sein können: der Sintflut, dem Auszug aus Ägypten und der Tötung der Erstgeborenen, den giftigen Schlangen und dem Tod Usas, der die Bundeslade berührte, schließlich der Hölle und ewigen Verdammnis bei Jesus und dem Zorn Gottes i. A. H. dekonstruiert alle Versuche der Antike, Gnosis, Aufklärung und Bibelkritik, den zornigen Gott loszuwerden. Für H. ist der Zorn die Kehrseite der Liebe Gottes und Ausdruck seiner Gerechtigkeit. Würde Gott Ungerechtigkeit nicht ahnden, wäre er nicht gerecht, seine Güte nicht verlässlich. Paradoxerweise strafe die heutige Gesellschaft, für die ein gebietender und zorniger Gott undenkbar ist, selbst Abweichler von den selbst gesetzten Werten rigoros ab. Abschließend wendet sich H. ausführlich der Umdeutung der traditionellen Kreuzestheologie zu. Auch das Infragestellen des stellvertretenden Opfers Jesu ist für H. eindeutig eine Anfechtung und alternative Deutungen sind s. E. Ausdruck eines dysfunktionalen Umgangs mit der Anfechtung in Form des beschriebenen Dreischritts. Er rehabilitiert A. v. Canterburys Satisfaktionslehre und führt aus, wo sie mit Luthers Kreuzestheologie korrespondiert. Treffend führt er aus, dass auch das AT den Ausgleichsgedanken kennt und auch Gott Empfänger, d. h. Objekt, des Opfers und Sühnegeschehens ist. Eine Umdeutung des Kreuzesgeschehens, wonach Jesus sich am Kreuz lediglich mit der Not der Welt identifizierte, weist er vehement zurück. Hier tue sich ein Abgrund zu Luther und der Reformation auf, und mit den „Wortwolken“ der ausgehöhlten neuen Kreuzestheologie könne er nichts anfangen. Für ihn schafft die entkernte Kreuzestheologie nur einen weiteren „historischen Jesus“, der das Weltbild ihrer Erschaffer und ihren Kampf gegen die Bösen widerspiegelt, die Menschen aber mit der Last der Sünde allein lässt (vgl. S. 275-277). Mit deutlichen Worten erteilt H. in diesem Zusammenhang der Allversöhnung ebenso wie dem Pazifismus eine Absage. Den Abschluss des dritten Teils bildet eine 28seitige Ekklesiologie. H. erklärt, wie sich sichtbare und unsichtbare Kirche zueinander verhalten und welche Rolle der Kirche, der Predigt und den Bekenntnisschriften beim Bewahren der Apostolizität zukommt. H. akzentuiert deutlich die Verantwortlichkeit der Kirche, falsche Lehren und Lehrer nicht einfach zu tolerieren und die Grundlage der Apostel und Propheten und Jesus Christus als Eckstein nicht zu verlieren (vgl. S. 296). Es gebe ein „,Jenseits‘ des Weges“ (S. 304). Eindringlich appelliert er an die Leser, in Jesus zu wurzeln, den Durst nach Gott durch Bibel und Gebet zu stillen, die Gemeinschaft anderer Christen zu suchen, der Anfechtung richtig zu begegnen, die traditionelle Lehre nicht vorschnell zu verlassen und sich neue Räume nur innerhalb des Hauses zu suchen, den Kern nicht von der Schale trennen zu wollen. die „Jetzt-Gestalt der biblischen Texte“ (S. 307) zum Ausgangspunkt zu nehmen, den methodischen Atheismus zu überwinden sowie um die richtige Nähe und Distanz zur Welt zu ringen und Sorge um die Apostolizität der Kirche zu tragen. Kritische Würdigung H. hat m. E. wie kein zweiter erkannt, wie sehr der Umstand des „weggewischten Horizontes“ (S. 104) unsere Zeit prägt. Zurecht deutet er die Reaktion auf Corona, die Popularität von Verschwörungstheorien, den Trumpismus, Gender Mainstreaming, die Gelbwesten und den Brexit als Symptome des verlorenen Wahrheitsbegriffs und Postfaktischen. Angesichts seiner klaren Analyse war ich verwundert über seinen Kotau gegenüber „allen biologischen und sozialen Geschlechtern“ (S. 14). Gespannt war ich, wie einleitend erwähnt, welche Vorschläge H. für den Umgang der Bewohner unterschiedlicher Wirklichkeiten innerhalb von Gemeinde bereithält. Hier enttäuscht mich der Autor, wenn er es für zwecklos hält, andere aus ihrer Blase herausholen zu wollen, und stattdessen Jesus als „das Licht des Multiversums“ bezeichnet. An sich ist richtig, dass es v. a. darum geht, als „Tuchträger“ Menschen zu Jesus zu bringen. Schon gar nicht sollte man das Evangelium unter einen Gesinnungsvorbehalt stellen, d. h. niemand muss zunächst eine aufgeklärte Haltung zum Thema „Impfen“ entwickeln oder Trump abschwören, um Christ werden zu könne. Ich befürchte aber, dass wenn wir in außerbiblischen Fragen die Factfullness dieser Welt aufgeben und den „epistemischen Tribalismus“ akzeptieren, früher oder später auch die biblischen Wahrheiten geschleift werden. Auch sich in der Mitte treffen wollen führt meistens in die Irre. Es war eine große Sünde, die bekannt werden müsste, dass sich gerade die Frommen in der Pandemie gegen den Lebensschutz aussprachen. Das Evangelium muss alle Bereiche unseres Lebens durchleuchten und darf auch aufdecken, wo wir unmerklich Ideologien verfallen sind. Verweise auf 1. Kor 9,20 ff. („den Juden ein Jude“ usw.) oder Röm 14/1. Kor 8 (das Gewissen des anderen respektieren) sind in diesem Zusammenhang nicht am Platze. Meines Erachtens ist es eine Frage der Nächstenliebe, den anderen nicht seinem Irrtum zu überlassen. Am erbaulichsten fand ich H.s autobiografischen Einlassungen. Als seelsorgerlich sehr nützlich empfand ich die Ausführungen zu den Angefochtenen der Bibel. Genesis 22 ist für mich selbst immer schon Ausgangspunkt großer Anfechtungen gewesen und H.s Ausführungen überzeugen mich mehr als Kierkegaard, zumal H. Hebräer 11 und Abrahams Auferstehungshoffnung ernst nimmt. Angesichts des in jüngster Zeit gerade bei SCM neuentstandenen „Entkehrungs-Genres“ tut eine biblische Einordnung der Anfechtung und des Abfalls not. H. gebraucht ein sehr treffendes Bild, wenn er den christlichen Glauben mit einem Haus vergleicht, das man erweitern, dessen tragende Balken man aber nicht antasten darf. H. will sich die postmoderne Skepsis gegenüber Begriffen zunutze machen und kritisiert ausführlich den Begriff des Historischen, weil er für das Wirken Gottes und Wunder keinen Raum lässt. H. etabliert stattdessen einen Geschichtsbegriff, der „nach oben hin offen“ ist, was m. E. legitim ist. Aber dass er Ranke attackiert, führt zu weit. Ich persönlich bin jedenfalls froh, dass wenigstens weite Teile der Geschichtswissenschaft noch vom postmodernen Zeitgeist unberührt sind und an Rankes Diktum, wonach es Aufgabe des Historikers ist, „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen ist“, festhalten. Der methodische Atheismus hat in der Natur- und Geschichtswissenschaft durchaus seine Berechtigung, er muss sich aber strikt dagegen verwahren, für einen ontologischen gehalten zu werden. Vor allem aber gilt, dass das, was H. in Teil I in Bezug auf den Glauben treffend ausführt, auch für alle biblischen Texte gilt: Sie entziehen sich dem Zugriff der Vernunft und können mit den Mitteln der für außerbiblische Quellen sehr wohl geeigneten historisch-kritischen Methode nicht untersucht werden. Verdienstvoll ist H.s Absage an alle Versuche, hinter die die Jetzt-Gestalt der biblischen Texte blicken zu wollen – diese Kritik sollten sich vormals bibeltreue Ausbildungsstätten wie die FTH Gießen zu Herzen nehmen. Seine Absage an alle Versuche, zwischen Kern und Schale unterscheiden und einen „historischen Jesus“ herausschälen zu wollen, gehört zu den stärksten Passagen des Buches ebenso wie die Abwehr aller Versuche, die Gottessohnschaft Jesu als eine nachösterliche Idee erscheinen zu lassen. Das Problem mit der historisch-kritischen Methode beginnt, anders als uns A. Baum und andere uns glauben machen wollen, nicht erst bei der Wunderkritik, sondern da, wo man hinter den vorgefundenen, inspirierten Text blicken will. Wer die Gottessohnschaft Jesu für einen Titel aus der Wirkungsgeschichte hält, ist häretisch, aber auch sich an der Debatte, welchen Anteil Johannes an der Vermehrung der Sohn-Gottes-Aussagen hat, zu beteiligen, ist schandbar! H. bezeichnet die Bibel durchaus als „primum principium“ (vgl. S. 117), auch wenn D. Facius bereits treffend angemerkt hat, dass die nicht nur gilt, „wenn wir sie gebrauchen“ (S. 118). Er plädiert für die in der Christologie bewährte o. g. Formel und will die Treue zur Schrift v. a. daran messen, ob diese uns in unserer Lebenspraxis herausfordern darf. Angesichts dieser treffenden Aussagen und auch des Befundes aus Teil I, wonach die Vernunft nichts taugt, wenn es um Dinge jenseits der ausgedehnten Welt geht, ist mir unverständlich, warum H. sich nicht zu einem apriorischen Bekenntnis zur Heiligen Schrift durchringt. Eine Theologie, die wie H. die Grenzen der Zuständigkeit der Vernunft so klar benennt, müsste m. E. keine Scheu haben, sich als „Theologie unter dem Wort“ zu verstehen – auf S. 299 spricht er positiv von der „Bindung unter (!) die Heilige Schrift“ –, die Selbstaussagen der Heiligen Schrift über ihre Inspiration ernst zu nehmen und sich deutlich zur Chicago-Erklärung zu bekennen. Gefeiert habe ich das Buch für seine klare Absage an alle Versuche, den stellvertretenden Sühnungstod Jesu umzudeuten zu einer bloßen Existenzstellvertretung – Jesus kommt in unser Elend, Gott führt vor, wozu der korrumpierte Mensch fähig ist. Angesichts des Umstandes, dass sogar unter Evangelikalen und bis in Brüdergemeinden hinein beliebte Universitätstheologen wie H.-J. Eckstein akademisch verbrämt auf genau diese Weise die biblische Sühnelehre aushöhlen, ist H.s Weckruf überfällig! Auch wenn er die Aussage Childers, die die Erkenntnis des stellvertretenden Sühnetodes als „heilsnotwendig“ bezeichnet, leider abschwächt (vgl. S. 264) und lediglich von „Goldstandard“ (S. 280) spricht, arbeitet H. präzise heraus, wie sehr A. v. Canterbury heute als Strohmann missbraucht wird und wo seine Kreuzestheologie sich durchaus mit der Luthers deckt. Pointiert stellt H. fest, dass nicht ein Gott zynisch ist, der seinen Sohn opfert und damit die Grundlage zu echter Versöhnung schafft, sondern ein Gott, der Jesus zu „Demonstrationszwecken“ leiden lässt. Sein Urteilsvermögen versagt m. E., wenn es um die Einschätzung Barths geht. H. meint, ein Zusammenschluss mit der Gemeinschaftsbewegung sei angesichts von Barths Offenbarungstheologie naheliegend gewesen, aber an Barths Ablehnung der Glaubenserfahrung gescheitert (vgl. Endnote 55). Das übersieht, dass Barth der häretischen Ansicht war, dass Christus die sündige menschliche Natur angenommen habe. Jesus lebte aber nicht nur sündlos, wie H. schreibt (vgl. S. 267), er wusste auch von keiner Sünde, wie H. ebenfalls schreibt (vgl. S. 262). Abzuspüren ist dem Autor, dass er darum ringt, wie die Apostolizität des christlichen Glaubens gewahrt werden kann. Zwar sitzt er im Hinblick auf den Weizen und das Unkraut der verbreiteten Verwechslung von Kirche und Reich Gottes auf. Dennoch betont er, dass man sich nicht mit dem Verweis auf den Unterschied zwischen sichtbarer und unsichtbarerer Kirche vor der Verantwortung drücken darf, Häresie auch als solche zu benennen. Leider übersieht er aber, welch großen Anteil an der Auffassung, Kirche sei Corpus Permixtum und man könne gegen die Vermischung von Glaubenden und Nicht-Glaubenden nichts unternehmen, das auch in diesem Buch durchgängig vertretene lutherische Taufverständnis hat. Während H. an einer Stelle unmissverständlich klarstellt, dass nur Wort und Glauben rettende Kraft besitzen (vgl. S. 269), wird er nicht müde, die Taufe an vielen anderen Stellen des Buches als Sakrament zu bezeichnen, und kolportiert damit die Verwirrung, die Luther bei aller Klarheit in Fragen der Rechtfertigung aus Glauben in Bezug auf die drei Sakramente stiftete, von denen er nicht lassen konnte. Wie schnell darauf auch bei den Protestanten die Rückkehr zur Taufwiedergeburtslehre folgte, durch die sich bis heute Abermillionen in trügerischer Sicherheit wiegen, hat die Kirchengeschichte inzwischen gezeigt. Fazit: Von H.s geistesgeschichtlicher Analyse der postmodernen Gegenwart habe ich sehr profitiert. Mutig bietet er überdies den liberalen Vertretern seiner Zunft die Stirn – womit er als beamteter Pfarrer mit Sicherheit ein hohes Risiko eingeht. Problematisch finde ich, dass er Menschen ihrer Bubble überlässt, sich die postmoderne Auflösung von Begriffen zunutze machen will und sich nicht zu einem apriorischen Bekenntnis zur Lehre von der Heiligen Schrift durchringen kann und sie für nachgeordnet hält.